"Ich lese keine digitalen Bücher", sagte neulich mein Bruder zu mir.
"Ich liebe das Haptische, den Geruch des Papiers, das Vor- und Zurückblättern, die Post-its, die ich einfügen kann."
"So geht es mir auch", musste ich gestehen.
"Und trotzdem weiß ich auch die Vorzüge eines digitalen Buchs zu schätzen."
"Hm", meinte er, "zähl doch mal auf."
"Gern", sagte ich und setzte mein Gehirn in Gang.
"Du kennst mich doch, Bruderherz. Und du weißt doch noch, dass unser Vater in seinem Leben ständig irgendwelche Artikel aus Zeitungen ausgeschnippelt hat und dann - teils nach Themen geordnet - irgendwo abgelegt oder auf weißes Papier geklebt und zu Ordnern zusammengestellt hat? Wie viele solcher Schnipsel entdeckte ich beim Entrümpeln des Hauses unserer verstorbenen Eltern in den hinterlassenen Büchern. Diese Leidenschaft des Schnippelns und Klebens habe ich von ihm übernommen. Doch betreibe ich sie auf andere Art. Ich mag etwa das Sammeln von Literaturschnipseln. Und da ich meine Bücher nicht zerschneiden möchte, dient mir mein Tablet bei elektronischen Büchern auf ideale Weise dazu, diese Leidenschaft fortführen zu können."
"Erzähl doch mal, wie machst du das?", wollte er wissen.
"Nun, ganz einfach. Ich lese ein Buch aus der Onleihe, die mich übrigens - noch ein anderer Vorteil von E-Books - im Monat nur einen Euro kostet. Wenn mir eine Stelle in einem Buch besonders gefällt, dann brauche ich keinen Kopierer, keine Schere, nicht Kleber und Papier, sondern nur das Gerät, auf dem ich das Buch lese. Und das ist mein Tablet."
"Und weiter?", fragte er mich interessiert. "Wie gehst du dann vor?"
"Der Kopierer ist bei der Methode die Screenshotfunktion meines Tablets. Die Funktion der Schere erfüllt die Fotobearbeitungs-App. Damit reduziere ich die in der Galerie gespeicherte Screenshotseite auf den gewünschten Text, ergänze in einem leeren Bereich Autor, Buchtitel und Seite. Und dann speichere ich die so bearbeitete Bilddatei in meiner Galerie in einem Ordner mit der Bezeichnung Literaturschnipsel."
"Und was machst du damit?", wollte er wissen.
"Oh, sehr viel", sagte ich.
"Es gehört zu meiner Arbeit als Schriftstellerin. Einmal animieren mich diese Schnipsel dazu, selbst etwas Neues zu schreiben. Sie stellen quasi einen Pool dar, aus dem ich Inspirationen schöpfe. Oder ich schreibe einen Text zu einem herausgegriffenen Literaturschnipsel. Das kann eine Abhandlung über einen bestimmten Schreibstil sein oder über interessante Metaphern. Oder über ein herausgegriffenes Stilmittel, das ich bei einem bestimmten Autor wahrnehme und mit Zitaten belege. Und solcherlei veröffentliche ich dann wieder in meinem Blog oder an anderen geeigneten Stellen im Internet. Es gibt immer LeserInnen, die so etwas interessiert. Ich habe schon manches Feedback erhalten."
"Ah so", meinte er. "Gut, das leuchtet mir ein. Allerdings würde ich das wohl auch eher handschriftlich auf Papier machen."
"Das ist dann aber nicht so fix parat für den Zweck, den ich dir gerade skizziert habe. Aber ich weiß, was du meinst", sagte ich.
"Das Handschriftliche mag ich auch sehr gern. Und ja, so etwas findest du auch bei mir. Zu diesem Zweck kaufe ich mir ab und zu ein kostbares leeres Buch, in dem ich, wenn mir danach ist, solche Notizen mache, die ich dann aber für das Weiterbearbeiten erst abtippen muss. Daher lese ich in solchen Notizbüchern meistens nur selbst zu einer späteren Zeit noch einmal, was mich früher berührt hat. Oft lese ich es dann ganz anders und staune über mich selbst. Erinnerst du dich an unseren Spaziergang in Landsberg im vergangenen Jahr, bei dem ich mit Maria in einem Paper Shop abtauchte und dieses kostbare Buch mit dem tollen Schwarzweißdesign erwarb? Und kannst du dir vorstellen, welch ein Genuss es ist, darin zu schreiben?"
Fotos zum Vergrößern anklicken
"Ah, ich verstehe. Jetzt weiß ich wenigstens, wozu du dir dieses Buch gekauft hast. Also magst du doch auch das Haptische."
"Aber ja", bestätigte ich, "ich liebe das Haptische. Auch."
"Aber trotzdem tun sich mir
noch weitere Fragen auf. Wie z. B. ist es mit dem Urheberrecht, dem
Copyright?"
"Ganz einfach. Bei meinem Schnippeln handelt es sich ja immer um Kurzzitate, deren Verfasser und Quelle laut Urheberrecht lediglich belegt werden müssen. Kurzzitate mit Angabe der jeweiligen Quelle dürfen - insbesondere in Arbeiten, in denen sie besprochen werden - zitiert werden. Dann etwa, wenn ich dieses Gespräch zu einem Text verarbeite und dabei ein solches Zitat verwende. Ich nehme mal eines, was ich dir sowieso zeigen wollte. Muss ich dir unbedingt zeigen. Darüber können wir ja nachher mal sprechen. Es geht um die Gegenüberstellung von Gutmenschen und Zynikern."
![]() |
aus: Sozusagen Paris - Onleihe-Version |
"Ah ja, interessiert mich", meinte er. Und dann schaute er mich verschmitzt an und sagte: "Aber jetzt mal eine letzte Frage: Zum Geburtstag brauche ich dir ab sofort also kein Buch aus Papier mehr zu schenken, oder?"
"Oh doch! Ich liebe geschenkte Bücher! Wenn jemand in mich hineingespürt hat, mich mit etwas Besonderem überraschen möchte, das weiß ich hoch zu schätzen, denn ... ich liebe das Haptische, den Geruch des Papiers, das Vor- und Zurückblättern, die Post-its, die ich einfügen kann. Und das ungestörte Lesen."
"Wieso ... wirst du denn beim Lesen dauernd gestört?"
"Beim Lesen von E-Books ... ja, manchmal schon. Wenn ich vergessen habe, den WLAN-Zugang zu unterbrechen."
"Siehste", sagte er grinsend, „dann weißte ja, was ich meine."
"Klar! Jedes Ding hat zwei Seiten. Wie eine Münze. Alles ist Yin und Yang", schloss ich unseren Dialog ab, bevor wir in die Küche gingen und das Kaffeetrinken vorbereiteten.
Und den WLAN-Zugang habe ich dummerweise beim Schreiben dieses Textes auf dem Tablet tatsächlich vergessen zu schließen. Egal, ich bin mit dem Schreiben ja gerade fertig geworden. Mal schauen ... was will mir Monika gerade erzählen?? Ich bin begeistert! Sie hat ein Team älterer Herren animieren können, 7,5 kg Kartoffeln für Pickert zu schälen, die sie für den Weihnachtsmarkt backen will. Wow!
So mag jeder was,
mal dies und mal das.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Lieber Leser, liebe Leserin, wenn Dir diese Geschichte gefallen hat oder Du etwas dazu sagen möchtest, dann schreibe mir gern einen Kommentar dazu. Ich freue mich über jede Rückmeldung. Danke!