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Als Kind habe ich oft gedacht, ich könne einen Punkt erreichen, an dem alles fertig ist: das Zimmer aufgeräumt, die Schulaufgaben gemacht, alles Unangenehme erledigt. Und ab und zu kam ich tatsächlich an diesen Punkt, an dem ich zumindest das Gefühl hatte: Jetzt kommt das reine Vergnügen. So erinnere ich mich auch noch an den sehr oft von meinen Eltern getätigten Spruch: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Also teilte ich das Leben ein in Unangenehmes und Angenehmes. Während der Zeit, in der ich Unangenehmes erledigte, sehnte ich mich nach dem Angenehmen. Gegen das Unangenehme sträubte ich mich, wollte am liebsten vor ihm entfliehen. Das Schöne war leider aber auch immer überschattet von der Angst vor dem nächsten Unangenehmen. Ich erlebte auf diese Weise Glück als die große Ausnahme oder als etwas, das sich IRGENDWANN mal einstellen würde. Man müsste nur lange genug darauf warten. Meine Kindheit war geprägt von diesem ständigen Gedanken: „Wann hört das mal auf? Immer ist was!“ Und dieses WAS, das war höchst unangenehm. Mal waren es schlimme Zahnschmerzen, die mich quälten, über die ich aber nicht sprach, weil ich Angst vorm Zahnarzt hatte. Oder wie schlimm war für mich die schlechte Note in einer Klassenarbeit, mit der ich mittags nach Hause kam und für die ich mich schämen sollte. So suchte ich mir heimliche Wohlfühlmomente, wie etwa die Liebe zu einem heimlichen Freund, das heimliche Rauchen, das heimliche Lesen von verbotenen Büchern. Ein Wunder, dass ich nicht an Drogen geraten bin. Aber das Leben ist lang. Und nicht in der Schule, sondern im Leben lernen wir, was wahres Glück ist. Es ist ja gar nicht das Fehlen von Unglück, sondern eine durchgängige Zufriedenheit. Ein VERTRAUEN in die Richtigkeit allen Geschehens, selbst wenn wir es gerade nicht verstehen. Mit zunehmender Erkenntnis begriff ich, dass all dieses Auf und Ab das natürliche Wesen des Daseins ist und dass nur ich das Auf und Ab in wertvoll und wertlos getrennt hatte. Solche Momente der inneren Erkenntnis tauchten immer öfter auf und ich gab ihnen Worte und füllte damit Kladden, die ich speziell für diesen Zweck kaufte. Es nützte allerdings nichts, diese Momente des kreativen inneren Schaffens nur für mich festzuhalten. Ich musste sie wieder loslassen, denn das Festhalten führte erneut zur Trennung von meinem Selbst. Und das wiederum zu Depression, Schmerz und Traurigkeit.
So kann ich heute zurückgreifen auf vieles, was in solchen Momenten sich manchmal wasserfallartig aus mir ergoss und lasse es nun weiterfließen (geschrieben am 6.2.2002):
Der ALL-Chemist
Das Äußere geht vorüber. Es ist dem Wandel unterworfen.
Doch ewig bleibt der Wandel. Er ist das Gold, das nie vergeht. In ihm liegt das Glück.
Mit den Augen sehen wir nur schäbig sich verfärbendes Blei.
Doch das Gold, das sehen wir nur mit dem Herzen.
Erkenne dieses ewige Gold – es ist dein Glück.
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Durch die Veröffentlichung auf Story.One wurden LeserInnen zu eigenen Gedanken zum Thema angeregt, die ich teilweise mit ihnen noch weiter kommunizierte:
- Über das Wesen der Dinge grüble ich auch öfter, ein bisschen anders zwar (aus welchem Grund fällt manches anderen so leicht, das für den einen ganz schwierig zu handhaben scheint, zum Beispiel). Besonders mit dem ersten Teil konnte ich mich gut identifizieren. Dieses "Wann hört das endlich auf" kenne ich auch zur Genüge. (A.)
- Danke, liebe Ulrike. Du hast das "Wesen des Seins" brillant herausgearbeitet. Ich habe früher sehr ähnlich "funktioniert" auch das Unangenehme abgearbeitet und mir "heimliche" Freuden gegönnt ... immer mit schlechtem Gewissen. Es war mir zwar bewusst, aber ich verdrängte es. Wenn ich jetzt, durch deine Story angeregt, darüber nachdenke, finde ich es furchtbar, einfach furchtbar. Ich habe das, was ich für Glück hielt, lange Zeit nur mit schlechtem Gewissen genossen. Irgendetwas in mir verbot es mir. Heute weiss ich, was es war. Wahnsinn! (E. G.-W.)
- Das Leben ist ein Fluss, der sich ins Meer ergießt. Es geht hoch hinauf und kommt dann wieder herunter. Der Wasserkreislauf und der Lebenskreislauf ähneln einander sehr. Wann fließt es aus uns wieder heraus? Die Gedankenstille ist der schöpferische Zustand. (A. G.)
- Liebe Ulrike, den Spruch kenne ich auch aus meiner Kindheit: Zuerst die Arbeit, dann das Spiel. Auf diese Weise fiel ich viel zu oft um mein Vergnügen um. Habe auch als Erwachsene hart daran gearbeitet, aus dieser Spirale herauszukommen. Offenbar ging's nicht nur mir so.(G. R.) // Darauf antwortete ich: Es muss die Nachkriegszeit gewesen sein, in der die meisten "Erziehenden" noch diese trennende Form der Lebensbewältigung in sich trugen und sie so weitergaben. Ich erinnere mich an meine eigene Dienstzeit, in der ich die Kinder an eine andere Haltung heranzuführen versuchte: Liebe alles, was du tust. Egal, was es ist. Sei GANZ dabei. Sei ganz DARIN. Und auch im Kollegium ... ich erinnere mich an eine Situation: Eine Kollegin jammerte fürchterlich über die anstehenden Aufgaben, sagte dann "Ach, wann fangen ENDlich die Ferien an!?" Dazu fiel mir ein: "Wenn du dich so sehr nach den Ferien sehnst, wirst du in den Ferien ständig denken, dass sie ja LEIDER bald wieder vorbei sind und sie nicht richtig genießen können." (meine Erfahrung halt ...) Aber ich kann mich auch an viele Momente erinnern, in denen ich genauso jammerte. ;-)
- Danke für deine tiefen Gedanken über das Sein. Ich denke diese Erkenntnisse können erst im Alter kommen, wenn wir WEISE FRAUEN werden. Das ist so befriedigend. (Sz) // Ja, das ist das tragende Element des Alters, die Dankbarkeit. Vielleicht auch die Zeit, die wir haben, um dies ausdrücken und vermitteln zu dürfen. Pure und einfache Freude! Ich danke Euch!
- "Erst die Arbeit, dann das Vergnügungen" Mit diesem Credo bin ich auch aufgewachsen. (Ob) // Ob Eltern der Gegenwart dies wohl auch noch so vermitteln? Hm ...
- Das ist doch toll, was geschriebene Worte geben können. Ich habe mich da auch in so manchem in deinem Text wiedergefunden und erkannt, dass ein Wandel entstanden ist. Danke. (Mag.)
- Liebe Ulrike, wir sind momentan auf demselben 'Trip'. Interessant die unterschiedliche Herangehensweise. Eine sehr gute Geschichte. (Ch. S.-Sch.) // Vielleicht sind wir auf diesem 'Trip' schon seit Beginn unserer Inkarnation, haben nur das "große Vergessen" vorgezogen, um das Gefühl von Trennung und Macht zu erfahren. Und das setzt halt dieses Freud-Leid-Spielchen voraus. Dazu könnte einem noch manches einfallen (Bibelstellen, Buddhistische Lehre, Karmaprinzip etc.). Danke fürs (Mit)Teilen Deiner Gedanken! 🙏
- Du inspirierst mit tiefen philosophischen Gedanken. (Th. L.)
- Hat mich ziemlich gepackt, diese Story, schon der Einstieg. Ich kenn das auch, diese Einteilung in Angenehmes und Unangenehmes ... und das Warten darauf, dass das Unangenehme endlich endet ... und jetzt weiß ich auch schon, was eine KLADDE ist. (S. M. W)
- Auch mich berührt dein Text sehr. Ich dachte genauso, dass ich irgendwann fertig bin und vor allem perfekt bin, keine Fehler mehr mache - fatal. Es ist schön zu erkennen, dass dies nicht das Ziel ist im Leben, sondern alles darin Platz finden darf. Es passiert mir momentan auch oft, dass ich aus früheren Gedanken die ich niedergeschrieben habe Wertvolles finde. (Sw) // Ja, greifen wir tief in die Schatzkiste unserer Vergangenheit. Ich habe lange Zeit gedacht, ich solle sie einfach schließen und nur noch in der Gegenwart leben. Aber speist sich unser Leben nicht aus dem Vergangenen? Würde ein Baum sich von seinen Wurzeln trennen, fiele er sofort um. Außerdem kann man diese vergangenen Erlebnisse ja transzendieren und ins Gegenwärtige wachsen lassen. Heute weiß ich jedenfalls, dass das Bestreben, alles immer richtig - keine Fehler - zu machen, mich an vielen Stellen gebremst hat.
Wie schön deine Erfahrungen zu teilen und am Netz des WIR zu spinnen 🌈
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