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Das weiße Radio, das in dem ebenso weiß furnierten Regal in ihrem Zimmer steht, liebt Petra über alles. Für sie ist es die Quelle besänftigender Klänge und erweiterten Fühlens.
Da wird er angekündigt, der Song, den sich ihre Seele derzeit zur Kuscheldecke erkoren hat. Noch während der Ansage stürzt sie zu ihrem großen Spulentonbandgerät, das sie sich von ihrem ersten in den Sommerferien verdienten Geld gekauft hat. Geliebte Musikstücke zu konservieren, sodass sie immer wieder angehört werden können, davon hat sie schon lange geträumt.
Das Gerät läuft. Wie gut, denkt sie, dass ich gestern noch das Ende des letzten aufgenommenen Songs genau eingestellt habe. Hochkonzentriert achtet sie darauf, wann der Sprecher sich einblendet, um den nächsten Titel anzusagen. Da ist der Moment!
Schon wieder wird der Song vor der nächsten Ansage nicht lange genug ausgeblendet, sodass die Stimme des Sprechers mitten in die Musik hineinplatzt! Ich könnte dem die Gurgel umdrehen, denkt Petra, während sie versucht, nur so viel Band zurückzuspulen, bis das Gesprochene weggeschnitten ist. Wie oft ist es ihr schon passiert, dass sie bei dieser Aktion das Einblenden des nächsten Titels verpasst hat, den sie manchmal schon heiß erwartet hatte. Ach egal, denkt Petra an diesem Tag und spult den ganzen Titel zurück.
Sie will dieses Gefühl erleben. Wieder und wieder. Sie kann
nicht genug davon bekommen. Ungeduldig schaut sie auf das Zählwerk. 938 … 900 …
850 …790 … 780 … 777. Jetzt! Der Schaltknebel ihres UHER stoppt das Band
ziemlich abrupt. Dem Band tut dieses viele Vor- und Zurückspulen sicher nicht
gut. Aber sie will den Song unbedingt jetzt noch einmal hören. Sie kann nicht
ergründen, woran es liegt, aber er ist Balsam für ihre Seele. Noch ein kleines
Stückchen weiter spult sie rückwärts über den Anfang hinaus. Voller Vorfreude
dreht sie am Startknebel. Schnell legt sie sich auf ihr Bett, verschränkt die
Arme unter dem Kopf und schließt die Augen. Der heutige Schultag, der mit der
Rückgabe der letzten Mathearbeit endete, hat ihr Herz noch fest in der Zange,
vor allem, da sie sich noch gar nicht getraut hat, ihren Eltern das
“Mangelhaft” vorzulegen.
Jetzt braucht sie erst diesen klangstarken Trost, die Welle von Wärme, die sich bereits während der ersten Takte in ihr ausbreitet.
Led Zeppelin … Stairway to Heaven!
Fünf aufsteigende Töne, sanft gezupft auf einer Gitarre, öffnen all ihre Poren. Noch ein paar weitere Töne, dann bewegt sich die erste Sentenz wieder abwärts und endet in einem Schlusspunkt, um von dort erneut wieder anzusteigen, dieses Mal aber begleitet von langen und beruhigenden Flötentönen. Gemeinsam schaffen es Gitarre und Flöten, Petras schlechtes Gewissen immer blasser werden zu lassen, bis es wie ein gasgefüllter Ballon leise davonschwebt.
Endlich setzt der lang ersehnte Text ein. Petras Armhärchen stellen sich auf:
There’s a lady who’s sure
All that glitters is gold
And she’s buying a stairway to heaven.
Die Lady. Das ist sie selbst. Das möchte sie sein. So eine Treppe zum Himmel möchte sie sich auch kaufen und einfach hinaufsteigen und die Schwere ihres Lebens hinter sich lassen. Sie geht hoch bis zu dem wärmenden Licht, nach dem sie sich so sehr sehnt. Die Musik trägt sie. Das Aufsteigen ist leicht. Sie spürt ihre Füße nicht, so als ob sie Flügel am Rücken hätte, die sie tragen. Sie will weg, einfach nur weg. Sie will weggehen aus dieser Herzenge, weg von diesem Gefühl, niemals gut genug zu sein.
Da ist sie wieder – die Stelle, an der die Schatten wachsen, die die Klarheit ihrer Seele verschleiern. Sie mag diese Stelle nicht.
Your head is humming, and it won’t go, in case you don’t know
The piper’s calling you to join him
Ihr Kopf beginnt zu brummen. Nein, nein, nein! Der Spielmann … es ist derselbe wie der Fährmann am Ufer des Flusses! Nein, nein! Ihm will sie nicht folgen. Nein, nur ein wenig mehr Wärme wünscht sie sich. Diese Treppe, die nur auf dem flüsternden Wind ruht, ist zu leicht. Sie kann Petra nicht tragen. Und das wird ihr schmerzlich bewusst. Vor allem, dass es eine Einbahntreppe ist. Die Schatten wachsen, die Musik wird härter … ihre Seele verlangt nach Klarheit … sie will eine Entscheidung. Und doch schreit sie noch immer nach dem Himmel.
Uuuuh – uhuuu – uuuh …
Petra bewegt sich noch immer nach oben, doch die Stufen werden schmaler. Die Treppe, an deren Ende … uuuuh … it makes me wonder. Ja, es gibt immer zwei Wege, singt die Stimme. Zwei Wege, denen du folgen kannst. Aber auf lange Sicht ist immer genügend Zeit für dich, deinen Weg zu ändern.
Petra öffnet die Augen und schaut aus dem Fenster. Die Sonne geht unter. Die Schatten werden länger. Ein Ruf reißt sie zurück von der Treppe in den Himmel: „Petraaa!! Kommst du bitte! Tisch decken! Wir wollen essen!“
Ein scharfer Schmerz reißt kurz durch Petras Unterleib, als ihr wieder bewusst wird, dass sie es noch nicht gesagt hat. Sie kann es nicht sagen. Heute noch nicht. Morgen wird sie Frau Kieselherr beichten, dass sie ihr Heft zuhause vergessen hat. „Schon wieder?“, wird diese fragen. „Wo hast du nur immer deinen Kopf?“ Und irgendwann, wenn es zu oft passiert ist und Petra zum wiederholten Mal die Unterschrift gefälscht hat … irgendwann … ach egal … irgendwann!
Da geht eine Lady, die wir alle kennen
Die leuchtet hell und will zeigen
Wie alles dennoch zu Gold wird
Und wenn du wirklich zuhörst
Wird der Klang auch dich erreichen
Wenn alle eins sind und eins ist alles …
And she’s buying a stairway to heaven.
Petra weiß noch nicht, wie viele Jahre sie noch brauchen wird, um ihren persönlichen Himmel zu betreten. Sie weiß noch nichts von dem entscheidenden Moment ... von ihrem Seelenvertrag, der ihre Tür zum Himmel verschlossen hält. Bis zum bittersüßen Ende.
Petra weiß noch nicht ...
Aber auf lange Sicht ist immer genügend Zeit für dich, deinen Weg zu ändern.
© Ulrike Nikolai 16.11.2022
P. S.:
Petras langer Weg und ihr Eintritt durch ihr persönliches Himmelstor wird demnächst in einer Anthologie erscheinen.
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